
Prof. Dr. Jürg Sulzer
1983 bis 2004 Stadtplaner von Bern, sodann während 10 Jahren Professor für Stadtumbau und Stadtentwicklung an der Technischen Universität Dresden
Neue Urbane Qualität für die Region Zürichsee
In seiner Synthese erklärt das Nationale Forschungsprogramm Neue Urbane Qualität, dass die Zersiedlung in unserem Land über eine sorgfältig zu gestaltende Innenentwicklung gebremst werden muss. In ihrer Gesamtheit bildet die Region Zürichsee wohl eine der schönsten und begehrtesten Wohnorte in unserem Land. Sie ist aber weiterhin von einer schleichenden Zersiedlung bedroht. Von grosser und zusätzlicher Bedeutung ist dabei, dass die Region Zürichsee Teil der grössten Schweizer Metropolregion Zürich ist. Die Region Zürichsee verfügt über eine ausserordentlich hohe Lebensqualität im Vergleich mit anderen Regionen der Schweiz und angrenzenden Nachbarländern der EU. Dank eines dichten und hochfrequentierten Verkehrsnetzes, das über enge Anschlüsse an das überregionale europäische Verkehrsnetz verfügt, hat die Region Zürichsee ebenfalls ein grosses wirtschaftliches Potenzial. Dies gilt es sorgfältig zu pflegen und weiterzuentwickeln, ohne dass die überlieferten Qualitäten in Mitleidenschaft gezogen werden.
In erster Linie müssen wir darauf achten, dass die Schönheit der historischen Dörfer auch in Zukunft lesbar und nicht nur dem Namen nach erhalten bleiben. Wie eine Perlenschnur reihen sich die Dorfkerne aneinander und sind umsäumt mit hoch qualifizierten Wohnorten. Einzelhandel, Gewerbe und Handwerk beleben nach wie vor die historischen Dorfkerne. Zwischen den Dörfern sind blühende Weinbau- und Bauernbetriebe, die für eine geordnete Pflege und Nutzung der umgebenden Landschaft sorgen. Neue Urbane Qualität heisst für uns, dass sich diese Perlenkette nicht auflösen darf und die eigenständigen Gemeinden „breiartig“ miteinander vermischt werden. Es bedarf einer identitätsbildenden Innenentwicklung, die von Ortsbezogenheit, Kleinteiligkeit und hochstehender urbaner Dichtequalität geprägt ist.
Heute an Morgen denken
Heute reden wir alle von Zukunftsvisionen insbesondere hinsichtlich des drohenden Klimawandels. Dem Gefühl einer engagierten Jugend folgend, wird ihr Enthusiasmus auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Spektrums unterstützt. Schnell werden allgemeine Forderungen erhoben, wie der Klimawandel zu begrenzen wäre. Aber hinter dieser generellen Zustimmungseuphorie verbergen sich auch recht abstrakte und ferne Reformwünsche: Der Klimawandel verlangt nicht nur eine rasche Umstellung auf Elektromobilität vom Roller übers Velo bis hin zum E-Auto und der Forderung, nur noch auf nachwachsende Energielieferanten zu setzen. Wir müssen gleichzeitig und sehr konkret in unsere kostbare Landschaft investieren, um sie nachhaltig vor zusätzlicher und unkoordinierter Zersiedlung zu schützen. Der Verlust der originären Natur- und Lebensqualität trägt ebenso zur Fortsetzung des Klimawandels bei wie die Zersiedlung die Schönheit unserer Landschaftsräume vernichtet. Die Planungsgruppe HECHT hat eine nachhaltige urbane Vision: Dank eines Masterplans Region Zürichsee 2050 soll die gesamte Region ganzheitlich betrachtet werden. Die zukünftige Entwicklung dieses einzigartigen Lebensraums wird auch als ein nachhaltiger Beitrag gegen den Klimawandel verstanden.
Als Teil der Metropolregion Zürich umfasst die Region Zürichsee heute 265‘000 Einwohner. Aufgrund ihrer historischen Entwicklung ist die Region sehr stark auf das Wohnen ausgerichtet, wodurch ihr eine urbane Vielfalt und Dichte oft fehlt.
Eine sinnvolle dezentrale Verteilung von Arbeitsplätzen und Dienstleistungsbetrieben, kulturellen, bildungsmässigen und sportlichen Einrichtungen ist nur in Ansätzen gegeben. Die klimaschädlichen Folgen sind bekannt: Eine äusserst grosse Nachfrage nach unterschiedlichen Pendelmöglichkeiten zwischen Arbeitsstätten im Zentrum der Metropolregion und den dezentralen Wohnorten, beispielsweise in der Region Zürichsee, lässt sich kaum noch umweltgerecht und auf qualitativ hohem Niveau bewältigen. Anstelle eindimensionaler Verbindungen sind in Zukunft vernetzte Systeme dringend gefordert. Statt weiterhin den üblichen linearen Entwicklungen ohne Vision zu folgen, ist eine neue und zielgerichtete „Gründerzeit“ in der Region Zürichsee zu initiieren. Im Grundsatz heisst das, die zentralen Seestrassen und Bahntrassen, wie sie rund um den Zürichsee vorhanden sind, so umzugestalten, dass das Seeufer wieder zum eigentlichen Lebensraum der Region werden kann. Schritt für Schritt und abschnittsweise wäre zwischen einzelnen Gemeinden eine Bündelung der Verkehrswege so vorzusehen, dass sie zum einen unterirdisch und zum anderen mit gemischten Formen von Elektromobilität erfolgt. Gleichzeitig wird dadurch der direkte Seezugang zu einem enormen Wachstumsmotor. Die damit verbundene, enorme Wertsteigerung von Grund und Boden wird einen Bauboom zur inneren Verdichtung auslösen, wie wir sie nur aus der Zeit zu Beginn des 20.Jahrhunderts kennen. Bauen wird durchwegs geprägt sein von Schönheit und Identität in jeder einzelnen Gemeinde. Diese Wertsteigerung ist der eigentliche „Kick-off“ für eine grossartige urbane und ganzheitliche Entwicklung der Region Zürichsee.
Urbane Vision
Es macht keinen Sinn, urbane Visionen zu formulieren und mit ihnen auf eine ferne Zukunft zu verweisen. Damit werden wir weder den Anforderungen an einen nachhaltigen Klimaschutz gerecht, noch tragen wir zu einer urbanen und qualitativ hochstehenden Entwicklung der Region Zürichsee angemessen bei. Wir müssen noch nicht alles Denkbare konkretisieren und erklären. Aber mit konkreten Schritten werden wir den geforderten Beitrag zum Klimaschutz bewältigen. Die weitere Zersiedlung der Landschaft wird nur gestoppt, wenn es gelingt, in einem ersten Schritt die Verkehrsinfrastruktur richtplanmässig neu zu definieren und dort, wo es sinnvoll ist, in einer zweiten Etappe in den Untergrund zu verlegen.
Nur so kann tatsächlich von einer klimagerechten und umweltverträglichen Entwicklung gesprochen werden. Gleichzeitig können die überlieferten, vielfältig genutzten Grünräume bewahrt werden – ohne das Wachstum zu hemmen. In den bestehenden, historisch gewachsenen Gemeinden erfolgt eine urbane und baulich verdichtete Entwicklung. Der raumbildende Städtebau ist den einfallslos verstreuten Siedlungen im Landschaftsraum vorzuziehen. Daraus geht eine moderne, neue Urbanität hervor, die von der Schönheit verdichteter Städte und Gemeinden erzählt.
Eine Kette positiver Entwicklungen
Die schrittweise Reduzierung der lärmintensiven Verkehrsachsen von Bahn und Seestrassen durch Verlegung in den Untergrund bildet die Voraussetzung für eine konsequent umweltverträgliche Entwicklung der Region. Sobald in ersten Schritten die Vorteile dieser zukunftsweisenden Entwicklung für die Menschen der Region lesbar und erfahrbar werden, folgen Initiativen zur sinnvollen und wohlüberlegten Zusammenarbeit von Städten und Gemeinden am See. Möglicherweise entstehen neue und identitätsbildende politische Einheiten, die äusserst leistungsfähig und kompetent sind. Ihre dannzumaligen Entwicklungsprobleme, wie beispielsweise zentrale, neue Bildungseinrichtungen, optimierte Ver- und Entsorgungsangebote oder neue Dienstleistungsstandorte mit privaten Arbeitsplätzen zentral-regional angeordnet, werden effizient gelöst und entsprechend urban gestaltet.
Gleichzeitig könnte ein dichtes Netz von Verbindungen für Elektromobilität jeglicher Art auf ehemaligen Bahntrassen ebenso helfen, den Klimaschutz nachhaltig zu fördern wie es gilt, ein Netz von Seeverbindungen zwischen den Städten und Gemeinden beiderseits des Zürichsees zu realisieren. Einmal auf den Weg gebracht, wird die Kette positiver Entwicklungen nicht abreissen. Die heute kaum noch zu bewältigenden Pendlerströme werden sich, dank dieser urbanen Vision rund um den Zürichsee Schritt für Schritt reduzieren lassen. Gleichzeitig wird das Verständnis beispielsweise für eine Konzentration höherer schulischer Einrichtungen in Uetikon am See wachsen. Die urbane Vision für die Region Zürichsee 2050 macht einen ersten und wichtigen Schritt. Sie bildet den Startschuss gegen den Klimawandel, dem zwangsläufig konkrete Umsetzungsschritte folgen werden.